Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






Liebe Leserin, Lieber Leser,


 vor Ihnen liegt ein Heft über das Enden und den Neubeginn. Ein Nachdenken über dieses Thema scheint uns mit Blick auf die Lage der Welt spannend und lohnenswert. Gleichzeitig betrifft es uns als Redaktion und Trägerkreis von polar unmittelbar: Nach über 12 Jahren endet polar als Print-Ausgabe im Campus Verlag mit dieser Ausgabe. Gleichzeitig liegt für uns in diesem Ende ein Neubeginn: polar erscheint in Eigenregie und überarbeiteter Form weiterhin als kostenlose Digital­ausgabe, flankiert durch lebendige Diskurse bei verschwitzen Veranstaltungen oder auf unserer Website.

Wir haben uns gemeinsam zu diesem Schritt nicht deshalb entschieden, weil wir digitale Formen für ein Allheilmittel halten. Im Gegenteil: Es fällt uns schwer, uns – zumindest vorläufig – von der Print-Ausgabe zu verabschieden. Wir müssen uns als Redaktion und Trägerkreis aber eingestehen, dass wir momentan – neben anspruchsvollen Jobs und agilen Kindern – nicht die Ressourcen haben, um das Projekt weiterhin in diesem Umfang ehrenamtlich zu stemmen. Wir danken an dieser Stelle herzlich dem Campus Verlag für die gute Zusammenarbeit! Und wir freuen uns, dass wir dem Verlag weiter verbunden bleiben. So wird die Digitalausgabe von polar in Zukunft auch über campus.de kostenlos abrufbar sein.

Wir möchten die Gelegenheit nutzen, uns an dieser Stelle bei all unseren Gefährt/innen, Autor/innen, Freund/innen, Förder/innen und natürlich unseren Leser/­innen von Herzen zu bedanken. Es kommt uns wie gestern vor, und ist doch schon 15 Jahre her, als wir das alles ausgeheckt haben: Eine ernst gemeinte Brücke zwischen politischer Praxis und Theorie, zwischen politischer Praxis und Kunst. Keine Gleichsetzung, aber ein beständiger Austausch, eine produktive Reibung. Diese produktive Reibung jenseits der Blasen ist heute mehr denn je gefragt. Und deshalb: Das Feuer brennt. Wir bleiben zusammen.

Der Begriff polar ist nicht nur wegen der Verbindung von politischer Praxis und Kunst, Politics und Art, programmatisch. Ihm lag bereits vor 15 Jahren, im Zeitpunkt der Entscheidung für diesen Titel, eine Proklamation auf der Grundlage einer gemeinsamen Zeitdiagnose zu Grunde: Politik darf sich nicht in Sachzwängen, Notwendigkeiten und Pragmatismus erschöpfen. Demokratie braucht einen Raum unterschiedlicher Möglichkeiten, unterschiedlicher Orientierungen. Nur so können Möglichkeiten der Gerechtigkeit und der Selbstbestimmung, entscheidende Institutionen und Praktiken, ins demokratische Spiel kommen, verhandelt, verteidigt und angeeignet werden.

Die Veränderungen bei polar sind natürlich in Relation zu den dramatischen Transformationen in der Welt vernachlässigenswert. Gleichwohl hilft es, sich vor Augen zu führen, dass man Geschichten vom Enden und Neuanfangen systemisch beschreiben kann, dass dahinter aber immer konkrete Biografien stehen, die mit Veränderung umzugehen haben. Als Scheitern. Als Chance.

In Zeiten, in den viel von »Ende« und »Krise« gesprochen wird, in der Präfixe wie »Post-« oder »Spät-« Hochkonjunktur haben, sollte man daran erinnern, dass es sich hier immer auch um Ausgangspunkte für eine neue Wegtrecke handeln kann. Der Trennungsschmerz im Enden kann schrecklich und schmerzhaft sein. Aber aus ihm entsteht eben auch Kraft – Kraft zur Veränderung, Kraft zur Verteidigung dessen, worauf es einem ankommt. In diesem Sinn wohnt den Enden in unseren Leben zwar vielleicht kein Zauber inne, wohl aber eine Chance, die wir ergreifen sollten. Linker Kulturpessimismus war die Sache von polar nie. Der zwangsläufige Gang der Geschichte allerdings auch nicht – um den Fortschritt müssen wir uns schon selber kümmern.

(Nicht nur) in unserer Gesellschaft kommt ein Gefühl hoch, dass die Welt, wie wir sie bislang kannten zu Ende gehen könnte. Die liberalen Gesellschaften sind mit einem Populismus ungeahnten Ausmaßes konfrontiert. Die längst überwunden geglaubten Mauern und Zäune wachsen wieder. Die Zukunft Europas steht auf dem Spiel. Dieses Gefühl einer »Endzeit« bzw. »Spätzeit« ist gerade für viele Junge ein Schock, die in dem Glauben aufgewachsen sind, die demokratischen, kulturellen und sozialen Errungenschaften seien so sicher, dass man sich mit ihnen gar nicht mehr groß mit ihnen befassen müsse. Die neue polar handelt »Von den Enden« - biografisch, individuell aber auch historisch, mit Blick auf die »Rückkehr der Geschichte«. Gleichzeitig wollen wir es aber nicht bei den »Enden« bewenden lassen, sondern die Möglichkeiten herausstellen, die im Neustart liegen können. Wir blicken also nach vorne: Ein Heft darüber, wie wir den Schrecken in Kraft verwandeln können, um gestärkt daraus hervorzugehen. Politisch sein heißt Möglichkeiten ergreifen: Eine gestärkte Demokratie, gestärkte Selbstbestimmung, ein gestärktes soziales Zusammen-Leben, ein gestärktes Europa.

Heute stehen wir vor der paradoxen Situation, das wir bereits seit einigen Jahren eine extreme gesellschaftliche Polarisierung erleben müssen – mit fatalen Konsequenzen. Gewachsen sind autoritärer Anti-Modernismus und Rechtspopulismus – bis in die Mitte der Gesellschaft. Alternativen sind gewachsen, treten aggressiv auf – aber nicht in unserer Demokratie, sondern zu unserer Demokratie. Das hatten wir uns anders vorgestellt. Gleichzeitig insistieren wir als liberale Linke aber darauf, dass wir die Öffnung des demokratischen Raums weiterhin brauchen – gerade um den Autoritären und Demokratiefeinden entscheiden zu be­-gegnen. Den Kampf gegen die Rechtspopulisten gewinnen wir weder rein pragmatisch noch im Modus des Sachzwangs. Eine Verteidigung unserer Werte, grundlegenden Institutionen und Praktiken braucht Selbstvergewisserung – und sie braucht den Mut zur Veränderung und Erneuerung. Anders lässt sich diese Auseinandersetzung nicht gewinnen.

Ein Treiber der radikalen Umbrüche ist natürlich die Digitalisierung, mit weitreichenden Konsequenzen auch für Zeitungen und Zeitschriften wie die vorliegende: Kann in unserer digitalen Welt die Online-Kommunikation journalistische Redaktionen ersetzen? Das Gegenteil ist der Fall: Je mehr Informationen im Netz herumschwirren und für jeden immer und überall verfügbar sind, desto mehr ist die redaktionelle Auswahl von Themen und Autor/innen, die Kompilation und Lektorierung notwendig. Umgekehrt sollte sich intellektuelle Intervention der digitalen Formen bedienen, um gehört zu werden. polar konzentriert sich deshalb in Zukunft – neben den bewährten Besprechungsformaten – auf die Debatte um wenige inhaltliche Essays mit klaren gesellschaftspolitischen Thesen. Inhaltliche Reduktion steigert so die Intensität und Klarheit.

Auch mit Blick auf Alltags- und Popkultur wäre eine vordigitale Weltsicht anachronistisch. Wenn wir politische Fragen behandeln, indem wir sie an kulturellen Alltags- und Massenphänomenen ebenso wie an Entwürfen der künstlerischen Avantgarde brechen, laufen diese Diskurse heute weitgehend im Netz ab. Zombies werden heute über Youtube-Clips weitergereicht, Heavy Metal als MP3 und die guten Fernsehserien verlassen das Netz kaum noch. Wenn diese kulturellen ­Phänomene Teil unseres Instrumentariums von Gesellschaftsanalyse bleiben sollen, müssen wir die Augen für die digitale Welt öffnen.

Politischen Zeitschriften sind im Idealfall Laboratorien für neue, unvorhersehbare Gedanken, Diagnosen und Perspektiven, in denen neue Anordnungen entwickelt, neue Themenfelder erkundet und Ansätze weitergedacht werden können. Politische Zeitschriften sind in diesem Sinne Orte, an denen alternative gesellschaftliche Möglichkeiten aufgezeigt werden, Bilder für andere Möglichkeiten entstehen – und damit der Raum für demokratische Politik überhaupt erst eröffnet wird. Das Politische fängt dort an, wo aus dem Unabdingbaren und Notwendigen ein Raum der Auseinandersetzung um Möglichkeiten wird. Digi­ta­le Formate haben das Potential, solche Räume zu öffnen, auch wenn sie de facto oftmals eher zur Schließung beitragen. Wir wollen uns am Projekt dieser Öffnung beteiligen.

Politisches Schreiben und politische Zeitschriften haben eine elementare Funktion für eine politische Praxis, die fast ausschließlich auf Mündlichkeit und Visualität ausgelegt ist. Schreiben in der Politik reduziert sich oftmals auf Textbausteine und reißerische Tweeds. In der politischen Praxis fehlt oft das, für das Schreiben letztlich steht: nämlich die Zeit, eine Idee zu entwickeln und zu neuen Anordnungen zu kommen - anstatt die Dinge nur Nebeneinanderzustellen. Mit diesem Mangel an Zeit geht zugleich jene Orientierungs- und letztlich auch Überzeugungskraft verloren, die politische Praxis dringend benötigt. Mit Blick auf dieses Vakuum an Ideen, Diagnose und Policy werden publizistische Labore als Impulsgeber noch wichtiger.

Was ist im Laboratorium für diese Ausgabe entstanden? Was haben unsere Expeditionen zu den Enden und den Anfängen ergeben? Der viel zu früh verstorbene Mark Fisher beschwört nochmals popkulturellen Gespenster einer Zukunft herauf, die sich so nicht einstellen will. Er deckt die subkutanen Zusammenhänge zwischen Pop, Politik und Alltag auf und entschlüsselt so das affektive Regime des digitalen Kapitalismus (S. 11). Nüchterner geht Lukas Zidella dann dem Wandel internationaler Politik nach. Die Spekulationen über das Ende des »liberalen Westens«, wie wir ihn kannten, schätzt er historisch als Phase ein, auf die neue Kontinuität folgen wird (S. 21). Eine andere Form kulturellen Wandels diagnostiziert Stefan Willer mit seiner kulturwissenschaftlichen Untersuchung des neuen gesellschaftspolitischen Topos »Sicherheit«. Der Fokus auf Sicherheit ändert unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit, von bisher nicht erkannten Bedrohungslagen bis zu neuen Präventionstechniken (S. 27). Paula Diehl beschreibt das Phänomen des Populismus und seiner besonderen Beziehung zu den Massenmedien (S. 35). Weg von politischen Gefahren und Transformationen, greift Thomas Schramme das existentiellste Ende jedes Menschen auf: den Tod. Er verfolgt dabei verschiedenste Theorien und Praxen des Umgangs mit der Endlichkeit (S. 43). Schon den Übergang zu neuen Anfängen im zweiten Teil leisten die beiden folgenden Beiträge über politische Kunst. Frederik Heinz untersucht die Möglichkeiten gegenwärtiger »politischer Kunst« und kommt zu dem Schluss, dass die Kunst uns nicht retten kann (S. 49). Im Interview konstatiert der Kurator-at-Large der documenta 14 Bonaventure Ndikung, dass die Krise zum Dauerphänomen geworden ist. Die Kunst solle uns einen Spiegel vorhalten und uns ermutigen, Privilegien abzugeben (S. 57).

Den Enden stellt polar Anfänge gegenüber. Jeder Einschnitt, jede Krise birgt gleichzeitig Chancen und Möglichkeiten für einen Neustart. Bertram Lomfeld wirbt für den Mut zur konkreten Utopie (S. 73). Felix Heidenreich versucht den Pessimismus in Deutschland zu erklären, obwohl weltweit viele Deutschland für eines der besten Länder der Welt halten (S. 77). Ulrike Meyer liest die momentane europäische Krise als Chance für eine Vertiefung, als Anfang einer neuen europäischen Identität (S. 87). Aus methodologischer Perspektive reflektiert Stefan Solleder die sozialwissenschaftliche Codierung zeitlicher Epochen in der Geschichte. Die Festlegung solcher Abschnitte bestimmt letztlich, wann ein Anfang anfängt (S. 95). Den fiktiven Anfang eines gewaltigen sozialen Experiments in einer hochtechnisierten Zukunft entwirft Dietmar Dath in den digitalen Spuren aus seinem Roman »Venus siegt«. Menschen, Roboter und künstliche Netzintelligenzen gehen hier ein sozialistisches Bundwerk ein, während die Erde von ökonomischen Fonds verwaltet wird (S. 101). Peter Siller plädiert in seinem abschließenden Essay für einen neuen Anlauf in der Gerechtigkeitsdebatte, der endlich das nach vorne bringt, was tatsächliche zu mehr Teilhabe führt: Öffentliche Infrastrukturen, Öffentliche Räume (S. 145).

Auch die Kunststrecken handeln von Enden und Anfängen. Unter den vier Künst­ler/­innen, die diese Ausgabe bildlich mitgestalten, finden sich drei documenta-­Teilnehmer. Die durchlaufenden schwarz-weißen Photos von Bernhard Prinz zeigen alternative Perspektiven aus großen globalen Metropolen (ab S. 7). Wo derTourismus endet, fängt eine neue Sicht auf den städtischen Alltag an. Stefanie von Schroeter thematisiert in ihrer für polar zusammengestellten Memento-mori-­Bouqet-Serie die desaströse Wirtschaftspolitik einiger Global Player (S. 64). Der Künstler Dan Petermann dokumentiert in der zweiten Farbstrecke für polar, wie ein eigentlich ausgedienter VW-Bus einer ganz anderen neuen Nutzung zugeführt werden kann (S. 136). Schließlich führt uns die letzte Fotostrecke an einen Ort, wo das Ende jedem Zentimeter Stein eingeschrieben ist – und gerade deshalb getanzt wird (S. 162).

Freundinnen und Freunde am Polarkreis!

Das Ende ist noch lange nicht vorbei!

Wir bleiben zusammen!

Für die Redaktion
Peter Siller, Bertram Lomfeld



Leben im Kapitalismus: >Schicksalsjahre<


Vor Jahren hatte ich eine Art von Blind Date mit einer mehr-als-nur-Hobby-Astrologin. Ein gemeinsamer Freund fand, wir sollten uns kennenlernen. Wir aßen Bibimbap mit Kimchi und unterhielten uns über das Leben. Ein bisschen über die Arbeit, über Beziehungen, New York, Berliner Hinterhofwohnungen, Yoga, aktuelle und ältere Filme, ihre entlaufene Katze, und wie sie zurückkam. Wir verstanden uns gut. Ein schöner Abend. Nach ein paar Stunden fragte die Astrologin, ob ich am Vormittag geboren sei. Ich bejahte. Sie hatte sich vor dem Date bei unserem Freund nach meinem Geburtstag erkundigt und während des Gesprächs vom Gesagten und Nichtgesagten meinen wahrschein­- lichen Aszendenten abgeleitet. Oder eher das Gesagte und Nichtgesagte vom Aszendenten. Von dem hatte sie dann die Geburtsstunde rückgerechnet. Ich war etwas perplex. Da ich eh nicht daran glaubte, wagte ich, sie nach meiner Zukunft zu fragen. Sie prophezeite zögerlich eine harte Phase des Wandels im nächsten Herbst. Liebgewonnenes würde enden. Es würde nicht leicht werden, so viel sei klar. Von heute aus betrachtet war das stark überzogen.
 
Inzwischen kann man den Aszendenten im Internet errechnen lassen – wie auch die persönlichen Schicksalsjahre. »Zukunftsprognose: Liebe, Beruf, Finanzen – Traumdeutung –  Seriöse und professionelle Beratung«, verspricht man dort etwa. Ferner »ehrliche durchleuchtende Antworten« bei maximaler Diskretion. »Italienische Zigeunerkarten« sind das präferierte Medium des selbsterklärten Hellsehers, der diese Werbung ins Netz gestellt hat. Sprachpolitische Fragen scheinen ihn nicht zu interessieren. Politische Schicksalsjahre hat er auch nicht im Angebot. 
 
Wenn man »politisches Schicksalsjahr« googelt, kommt erst »2017 – das Schicksalsjahr der FDP?«, dann »Ausblick auf 2017: Ein Schicksalsjahr für die EU« und danach gleich »Hier brodelt es gewaltig! Wird 2017 zum Schicksalsjahr? Schon lange war Politik nicht mehr so spannend. Oder so unberechenbar. Brexit, Trump, Türkei. Nato, Putin, der IS. Le Pen und die AfD. Wohin steuert die Welt?« Fragen über Fragen, auf die man sich ein paar ehrliche durchleuchtende Antworten wünscht. Die es allerdings erst retrospektiv wird geben können. Denn dass der Ausgang des politischen Handelns stets ungewiss ist, kann man bereits bei Hannah Arendt nachlesen. Pfadabhängigkeiten hin oder her. Und das ist gut so.
Vor ein paar Wochen traf ich durch Zufall die Kollegin einer Freundin wieder. Wir kannten uns seit ein paar Jahren – meine Freundin hatte uns damals eine Art von Blind Date organisiert, nachdem ihr aufgefallen war, dass ihre Kollegin und ich für ein paar Monate in der gleichen Stadt sein würden. Damals waren wir um die Häuser gezogen und am Ende beim Konzert einer jugendlichen Rockband gelandet. Diesmal fanden wir immerhin ein Lokal, das einen halbwegs gepflegten späten Drink ausschenkte. Wir unterhielten uns über das Leben. Ein bisschen über die Arbeit, über gescheiterte Beziehungen, Trump, Yoga-Retreats auf griechischen Inseln, unsere Herkunftsfamilien und das Rauchen. Wir verstanden uns wie damals ausgezeichnet. Ein guter Abend. Nach ein paar Stunden erzählte mir die Kollegin der Freundin, dass sie am Tiefpunkt ihrer letzten harten Phase eine nordamerikanische Schamanin aufgesucht habe. Da sie eh nicht daran glaubte und mit der Schamanin schon länger bekannt war, hatte sie sich durchgerungen. Zu einer dreistündigen Sitzung für weit über 200 Dollar. Es waren erstaunliche Dinge rausgekommen. Zur Zeit recherchiert die Kollegin meiner Freundin, ob die Schamanin auch transatlantische Skype-Sessions macht. Mal sehen, was rauskommt. Ich glaube eh höchstens ansatzweise daran. Ob das gut ist, wird sich allenfalls retrospektiv zeigen können. […]

Alles auf Anfang


Die Neuerfindung der Liebe: Absolute Beginners von Julien Temple
Als Absolute Beginners 1986 in die Kinos kam, war der Film ein absoluter Flop. Die finanzielle und künstlerische Pleite dieses ambitionierten Projekts, welches das angeschlagene britische Kino eigentlich aus der Krise führen sollte, versetzte ihm vielmehr seinen (vorübergehenden) Todesstoß. Die Kritik spottete über die anachronistische Ausstattung und die altmodischen Anleihen am Musicalfilm – verstaubte Nachahmerei also statt peppigem Neubeginn. Die Enttäuschung war umso größer als dass die rebellische Romanvorlage von Colin McInnes eine ganze Generation in Großbritannien geprägt hatte, etwa so wie Salingers The Catcher in the Rye in den USA. Die Sozialromantik des Films jedoch, der die Liebesgeschichte zwischen der ambitionierten Modedesignerin Crêpe Suzette und dem Photographen Colin vor dem Hintergrund der Rassenunruhen von Nottinghill 1958 erzählt, bleibt hölzern und seltsam verschämt. Und doch bezeichnet dieses kinematographische Werk einen kreativen Aufbruch, der sich in David Bowies zeitlosem Titelsong zum Symbol einer Epoche verdichtet. I absolutely love you / But we’re absolute beginners / With eyes completely open / But nervous all the same.
 
Der Soundtrack katapultiert die Suche der Nachkriegszeit nach neuen künstlerischen Ufern in die Gegenwart der 1980er Jahre, erfindet einen neuen Sound, stilisiert eine neue Weise zu leben und zu lieben. Und doch ist das, was vermeintlich neuerfunden wird, bisweilen nur eine phasenverschobene Wiederholung des bereits Bestehenden. Bowies Genie – sein Sound, seine Lyrik und die Clipästhetik (Bowie, der in langen Schwarzweißeinstellungen, durch farbige Zitate aus dem Film durchbrochen, dem Versprechen ungezähmter Liebe nachjagt) – stellt uns im Zusammenspiel mit diesem womöglich misslungenen Film die unbequeme Frage, ob es in der Liebe, vielleicht auch in der Politik, nicht immer nur das Klischee und seine Wiederholung gibt. Perpetuierte Anfänge, die nur selten, bisweilen aber doch, zu echten Aufbrüchen, zu Sternstunden der Menschheit geraten. Ein Klischee? Vielleicht. Aber: It’s absolutly true.


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